Interview zur Digitalisierung an Hochschulen in NRW
Sophie Brach (KURT): Für wie digitalisiert halten Sie die Hochschulen im Ruhrgebiet?
JProf. Dr. Simon Hensellek: Ich befürchte, dass ich hier direkt mit einem „das kommt darauf an“ einsteigen muss. Zum einen kommt es tatsächlich noch immer stark darauf an, welche Hochschule wir betrachten und welchen Bereich (also z. B. Verwaltung, Lehre oder Forschung). Hier gibt es teilweise leider echt große Unterschiede sowohl zwischen den Hochschulen als auch zwischen den verschiedenen Bereichen. Ein Beispiel dafür ist das zentrale Service-Portal der TU Dortmund, welches ich persönlich toll finde und welches mir auch meinen Start an der TU mitten im Lockdown im April diesen Jahres sehr erleichtert hat. Dort hat man mittels Single-Sign-On digitalen Zugriff auf so gut wie alle Bereiche der Verwaltung (IT- und Mediendienste, Software, Formulare, Vorlagen im Corporate Design usw.) und kann die Angebote zumeist auch direkt über die Plattform herunterladen oder buchen. Im Vergleich dazu sind mir aber auch Hochschulen bekannt, die noch vor kurzem ein standardisiertes Papierformular mit Durchschlag zur Beantragung von Urlaub eingeführt haben, das dann der Reihe nach unterschrieben werden musste. So etwas muss natürlich im Jahr 2020 auf digitalem Weg beantragt und genehmigt werden können. Das macht auch Vertretungsregelungen und die Abstimmung von Abwesenheiten einfach viel transparenter und besser planbar. Ich glaube, hier ist also an der einen oder anderen Hochschule im Ruhrgebiet noch Luft nach oben und die aktuelle Situation mit Covid-19 wird hier hoffentlich als Chance genutzt, solche antiquierten Prozesse endlich zu digitalisieren.
In der Lehre muss man glaube ich aktuell zwei Dinge differenzieren, nämlich die generellen Nachholbedarfe, die sich einfach in der Vergangenheit angestaut haben und die unmittelbare Reaktion auf die Corona-Krise seit Anfang des Jahres. Während ich den letzten Punkt durchaus positiv sehe, weil die Hochschulen schnell und auch relativ flexibel mit digitalen Lehrangeboten (Online-Vorlesungen, Online-Prüfungen etc.) reagiert haben, schleppen wir ansonsten natürlich langfristig schon die ein oder andere ungemachte Hausaufgabe mit uns herum, was wirklich ausgereifte digitale Lehre angeht, die über die Nutzung einer digitalen Lernplattform wie Moodle und einer Online-Vorlesung via Zoom und Co. hinausgeht. Die Erstellung digitaler Lerneinheiten und ganzer Lernräume ist aber auch einfach sehr zeit- und kostenintensiv und wird bislang auch noch zu wenig institutionalisiert als solches auch gefördert. Ich habe aber Hoffnung, dass sich da nun etwas tut. Bei uns an der WiWi-Fakultät wurde z. B. kürzlich erst eine eigene Vollzeitstelle für einen Kollegen geschaffen, der speziell die digitale Lehre unterstützen soll.
In der Forschung sehe ich uns eigentlich sehr gut aufgestellt. Hier klappen der digitale Austausch und die Kollaboration meines Erachtens sowohl an innerhalb einzelner Arbeitsgruppen/Lehrstühle als auch über Lehrstuhl- und Universitätsgrenzen hinweg. Dies ergibt sich aus einer gesunden Kombination aus den dezentralen Freiheiten, die wir Forschenden in der Regel genießen, aber auch einem guten Angebot der Hochschulen (z. B. ausreichende Software-Lizenzen oder die neue Sciebo-Campuscloud).
Sophie Brach (KURT): Was muss dringend verbessert werden?
JProf. Dr. Simon Hensellek: Neben der aktuellen Anschub-Finanzierung muss meines Erachtens dringend auch eine laufende Finanzierung von digitaler Lehre mit all ihren Möglichkeiten kommen. Ich denke, hier wird der Aufwand noch oftmals unterschätzt, der zur Erstellung und zur Durchführung von guten digitalen Lehrangeboten notwendig ist. Ein ganz einfaches Beispiel sind interaktive Elemente in Vorlesungen, welche ich im Hörsaal mal eben als Frage zwischendurch stellen kann, die jedoch in der digitalen Lehre schon vor der Vorlesung im System nebst Antwortmöglichkeiten zum Abstimmen angelegt werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit Aufgaben für Übungen sowie der Nachbereitung von Aufzeichnungen usw., welche durchaus zu Zeitfressern werden können und somit mehr Personal notwendig machen als in der analogen Variante. Andererseits profitieren Studierende aber auch von einem solchen Angebot, wenn Sie z. B. auch in einer Post-Covid-Welt Inhalte von Vorlesungen und Übungen zeit- und ortsunabhängig zur Verfügung haben und diese nachbereiten können.
Mittel- bis langfristig müsste man dann auch die rechtlichen Rahmenbedingungen auf ihre Alltagstauglichkeit bzgl. digitaler Lehre prüfen. So können z. B. wir als Lehrende an einer Präsenz-Universität regulär nur maximal 25 % unseres Deputats über sog. virtuelle Lehre erbringen. Zweifelsohne lebt die Hochschullehre auch von der persönlichen Interaktion und dem Diskurs in Vorlesungen, Übungen und Seminaren, gerade bei rein digitalen Lehrangeboten, welche auch asynchron von Studierenden genutzt werden können, steckt meines Erachtens aber noch ein erhebliches Potenzial, das wir aktuell nicht ausschöpfen. Wichtig ist dabei aber, dass wir daraus ein sinnvolles Gesamtpaket schnüren, das alle wichtigen Elemente vereint.
Sophie Brach (KURT): Diese Woche wurde ein Digitalpakt zwischen dem Land NRW und den Hochschulen unterzeichnet. Was ist Ihre Einschätzung dazu? Wie sinnvoll ist der Pakt? Ist er erfolgversprechend?
JProf. Dr. Simon Hensellek: Zuerst einmal bin ich persönlich immer froh, wenn sich überhaupt etwas in wichtigen Bereichen tut. Insofern wünsche ich mir natürlich sehr, dass daraus etwas Erfolgreiches hervorgeht. Wenn ich allerdings ein Volumen von 70 Mio. Euro über 2-3 Jahre lese, frage ich mich doch, ob das auch nur annähernd ausreichend sein wird für die aufgeführten „großen“ Digitalisierungsprojekte. Bei den aktuellen Studierendenzahlen in NRW (laut Statista waren es ca. 775.000 im Jahr 2019), wären das umgerechnet ca. 90 Euro pro Kopf, Mitarbeitende der Hochschulen mal ganz außen vor. Salopp gesagt würde das bei den aktuellen Preisen gerade einmal für eine Webcam pro Studierendem reichen. Als Vergleich dazu lasse ich einmal die soeben veröffentlichten 100 Mio. Euro Förderung für einen NRW-weiten „E-Tarif“ im öffentlichen Nahverkehr hier stehen.
Damit jedoch alle Fortschritte der „Digitalisierungsoffensive“ dann auch nicht einfach verpuffen, sehe ich besonders auch die bereits ab 2022 wieder sinkenden Budgets kritisch. Klar ist irgendwann eine gewisse Infrastruktur/Ausstattung vorhanden, aber wie ich bereits eingangs gesagt habe, müssen auch gerade die Köpfe finanziert werden, die aus der IT-Ausstattung dann gute digitale Lehrangebote hervorbringen und diese auch laufend betreiben und zielgerichtet weiterentwickeln.
Besonders hervorgehoben wurde in der Presseinformation zur Vereinbarung ja das Projekt ORCA.NRW (Open Resources Campus NRW), welches offenbar eine digitale Plattform zum Austausch von offenen Lehr- und Lernmaterialien als Ziel hat. Mir persönlich ist dies bislang nicht bekannt gewesen, obgleich ich mich in den letzten fünf Jahren an der Universität Duisburg-Essen und der TU Dortmund durchaus mit dem Thema digitale Lehre befasst habe. Wichtig ist meines Erachtens immer, dass solche Projekte nicht an der Realität und den Bedarfen der Lehrenden und Studierenden vorbeigehen. Ich bin daher gespannt darauf, wann und in welcher Form diese Plattform dann wirklich in der Lehrpraxis ankommt. Insbesondere stellen sich mir dann auch genau die oben genannten Fragen, wie die bislang dezentral entstehenden Lehrinhalte auf diese Plattform kommen sollen (wer macht das für mich?) und wie diese Plattform mit ihren Inhalten dann in die aktuelle Hochschulinfrastruktur eingebunden und laufend betrieben sowie aktualisiert werden kann.
Sophie Brach (KURT): Was können sich die Hochschulen im Ruhrgebiet bei anderen Hochschulen abschauen, was die Digitalisierung angeht?
JProf. Dr. Simon Hensellek: Also zum einen sollten sich die NRW-Hochschulen untereinander erst einmal stärker vernetzen, um eben das angesprochene Gefälle innerhalb unseres Bundeslandes auszugleichen. Wenn man dann aber über die Grenzen von NRW hinausschaut, gibt es sicherlich die eine oder andere Hochschule, die beim Thema Digitalisierung gut unterwegs ist. Unabhängig vom Bundesland fallen mir da interessanterweise direkt viele Hochschulen (z. B. die TU München oder das Karlsruher Institut für Technologie) ein, die auch regelmäßig im Bereich Startup-Förderung laut Deutschem Startup Monitor gut unterwegs sind – vielleicht gibt es da ja eine gewisse Korrelation hinsichtlich der Offenheit für neue Themen und Innovationen. Im Bereich der digitalen Lehr sollten wir dann auch in Erwägung ziehen, die Expertise von Fernhochschulen sowie jüngeren Hochschulen wie beispielsweise der CODE University einmal genauer anzuschauen. Dort wird digitale Lehre schon etwas länger bzw. bei den jungen Hochschulen oftmals seit Beginn intensiver angeboten als an den etablierten Präsenzhochschulen. Ein Blick dorthin und Austausch kann in keinem Fall schaden.
Sophie Brach (KURT): Was können sich die Hochschulen von Unternehmen abschauen, was die Digitalisierung angeht?
JProf. Dr. Simon Hensellek: Ich glaube, hier können Hochschulen und Unternehmen durchaus noch gegenseitig voneinander etwas lernen bzw. sich abschauen. Natürlich sind viele, gerade große internationale Unternehmen sehr gut aufgestellt, was ihre Digitalisierungsvorhaben angeht, aber einschlägige Berichte attestieren gleichermaßen vielen deutschen Unternehmen und dem deutschen Bildungssystem im internationalen Vergleich Nachholbedarf. So habe ich z. B. in den letzten Monaten schon alles erlebt von toll gemachten Online-Konferenzen und neu gegründeten Digital-Startups mit genialen Lösungen bis hin zu Mitarbeitern von Unternehmen, die aufgrund wenig praktikabler Lösungen einfach ihre Privatgeräte nutzen, um mit mir eine Videokonferenz über Zoom oder Skype zu halten.
Das größte Problem ist wohl noch immer, dass Digitalisierung viel zu selten zur Chefsache erklärt wird und an vielen Stellen nur als „Projekt“ angesehen wird. Das ist jedoch die absolut falsche Herangehensweise, denn Digitalisierung ist eben nicht abgeschlossen, wenn alle in der Hochschule oder im Unternehmen mit Laptop und Webcam ausgestattet sind, sondern fängt dann erst richtig an und wird so schnell auch kein Projektende haben. Ich bin mir absolut sicher, dass uns die Digitalisierung noch sehr lange auf Trab halten wird und zwar in einem Ausmaß, das die heutigen Möglichkeiten deutlich übersteigen wird. Da können sich Hochschulen und Unternehmen bitte schon heute auf einen gemeinsamen Marathon einrichten und insofern Möglichkeiten zu langfristigen Kooperationen ausloten, um voneinander zu lernen, sodass der gesamte Standort Deutschland langfristig mit Innovationen und Wettbewerbsstärke profitiert. Langfristig darf es zwischen den beiden Playern aufgrund ihrer Wichtigkeit einfach keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Digitalisierung geben.